Naturschutz neu gedacht

Naturschützer, Waldbewirtschafter, Landwirte, Biologen, Ökologen und andere Wissenschafter sind nicht unbedingt einer Meinung, wenn es darum geht, zu entscheiden, welche Pflanzen und Tiere schützenswert sind und welche Gegenmaßnahmen gegen Zuwanderer angebracht sind. Brauchen wir angesichts von Klimawandel und Umweltbelastungen eine neue Perspektive auf zugewanderte Pflanzen und Tiere? (Erstveröffentlichung in längerer Form im März 2019 im Gartenratgeber**)

Angesichts der Herausforderungen, die der Klimawandel mit sich bringt, fordern einige Fachleute ein Umdenken im Naturschutz: Die Neubürger unter den Pflanzen und Tieren sind nicht grundsätzlich schlecht, sie können sogar die Lösung mancher Probleme sein!

Welche Natur ist schützenswert und welche nicht?

Das verstehen viele der herkömmlichen Sichtweise unter Naturschutz: Biotope mit einheimischen und alteingebürgerten Pflanzen und Tieren müssen erhalten werden – grundsätzlich. Werden sie bedroht, werden harte Gegenmaßnahmen ergriffen: Die pflanzlichen Einwanderer werden gerodet oder mit anderen Methoden zur Strecke gebracht, tierische Fremdlinge werden geschossen, vergiftet oder es werden natürliche Feinde ausgesetzt.

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Beispiel 1: Indisches Springkraut

Eine dieser geächteten pflanzlichen Neubürgerinnen bei uns in Deutschland ist das Drüsige Springkraut (Impatiens glandulifera), auch Indisches Springkraut, Himalaya-Balsamine oder auch Bauernorchidee genannt. Die Briten brachten es im 19. Jahrhundert nach Großbritannien, von wo aus es als Zierpflanze nach Kontinentaleuropa kam. Es gefällt ihm bei uns und Gartenzäune können es nicht aufhalten. Nun breitet es sich vor allem in feuchten, lichten Wäldern und Auen mit hohem Nährstoffgehalt im Boden aus.

Das Drüsige Springkraut wird von Naturschützern als invasiver (bedrohlicher) Neophyt eingestuft und bekämpft. Tatsache ist, dass das Kraut besonders bei Halbschatten und hoher Luftfeuchtigkeit schnell wächst und andere Pflanzen ab Hochsommer überwuchern kann – jedenfalls, wenn es im Frühjahr keinen Spätfrost gab und es einen frischen, nährstoffreichen Platz gefunden hat. Hummeln und Bienen mögen den neuen Pollen- und Nektarlieferanten aus Südasien – gerade das lässt manche Naturschützer fürchten, dass die dann keinen Geschmack mehr an einheimischen oder länger eingebürgerten Blühern finden und deren Bestäubung und Vermehrung vernachlässigen könnten.

Und obwohl das Indische Springkraut keine aggressiven Wurzelausläufer hat und im Winter abstirbt, breitet es sich rasch aus, weil jede Pflanze 2.000 bis etwa 4.000 Samen bildet, die schon bei leichter Erschütterung herausgeschleudert werden und 5 bis 6 Jahre im Boden keimfähig bleiben.

Die Naturschützer fürchten um wertvolle Biotope und blasen zum Halali: freiwillige Helfer rücken aus und reißen das Springkraut aus – oft erst, wenn die Pflanzen schon blühen, also wahrscheinlich auch die ersten Samen bereits ausgebildet haben, die durch das Tragen zu den Sammelstellen für den Abtransport schön verteilt werden.

Umstrittenes Springkraut, hier mit Brennnesseln am Gehölzrand der Isarauen. Das Springkraut liebt feuchte bis nasse nährstoffreiche Böden an eher schattigen Standorten mit hoher Luftfeuchtigkeit.

Ist eine flächendeckende und rigorose Vernichtung notwendig und sinnvoll?

Die Bayerische Landesanstalt für Wald und Forstwirtschaft (LWF) äußert sich anders über das Indische Springkraut. Sie hat im Jahre 2005 umfassende Versuche angelegt. Die Ausbreitung entlang von Waldrändern und in der Nähe landwirtschaftlicher Flächen wird auf die durch Stickstoffeinträge veränderten Standortbedingungen zurückgeführt. Außerdem sei Springkraut ein Lückenfüller in der Auenvegetation, trete also da auf, wo leere Flecken sind. Es sei auch nicht so, dass das Springkraut von Jahr zu Jahr an der gleichen Stelle immer dichter werde. Aufgrund der Dynamik von Wasser und Sedimenten, die in Flussauen von Jahr zu Jahr wechseln, keimen die beteiligten Arten an immer neuen Stellen.

Dass das Indische Springkraut insgesamt häufiger geworden ist, sei die Kehrseite von Standortveränderungen, wie sie durch Nährstoffeinträge in Böden verursacht werden. Aktionen wie das Ausreißen des Indischen Springkrauts doktere in vielen Fällen an den Symptomen herum, bekämpfe aber nicht die Ursachen. Das Indische Springkraut verdränge andere Arten zudem nicht dauerhaft. Der negative Einfluss auf die Waldverjüngung sei wesentlich geringer als der von Goldrute, Riesenbärenklau oder Japanischem Staudenknöterich, weil der Lichtentzug geringer sei. Und wenn man das Springkraut aus irgendeinem Grund eindämmen will, sei eine rechtzeitige Mahd oder das Ausreißen vor der Samenreife bessere Maßnahmen.

Manche ökologischen Landwirte sowie Bienenzüchter finden das Springkraut im Graben am Feldrand sogar hilfreich – erstere, weil es mehr blattlausfressende Insektenarten („Nützlinge“) als das heimische, gelb blühende Große Springkraut (I. noli-tangere) beherbergt, die Bienenzüchter wegen der hohen Bienenweidequalität des Indischen Springkrauts.

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Beispiel 2: umstrittene Baumarten

Eine ähnliche Meinungsverschiedenheit gibt es auch zwischen dem Bundesamt für Naturschutz, welches Douglasie, Robinie, Roteiche und andere Baumarten auf eine Schwarze Liste mit invasiven Pflanzenarten gesetzt hatte, und dem Deutschen Verband Forstlicher Forschungsanstalten (DVFFA), der eine Studie hatte anfertigen lassen, nach der diese Bäume gerade in Zeiten des Klimawandels das Artenspektrum erweitern und die Stabilität eines Bestandes erhöhen können. Es wurde kritisiert, dass die Nutzenerwägungen in älteren Risikobewertungen zu wenig beachtet oder komplett vernachlässigt würden. Man dürfe nicht nur die Gefahren sehen, sondern müsse auch Chancen erkennen und nutzen.

Lässt sich die Zeit zurückdrehen und macht das Sinn?

Schon in  T. C. Boyles spannendem Roman von 2012 Wenn das Schlachten vorbei ist bekämpfen sich zwei Fraktionen von Naturschützer bzw. Tierschützer – beide in bester Absicht: die einen, die den ursprünglichen Zustand eines Ökosystems auf einer der Kanalinseln vor Kalifornien um jeden Preis wieder herstellen wollen und dafür auch über (Tier-)Leichen gehen, und die anderen, die sagen, dass die Einwanderer genauso schützenswert sind wie die, die einheimisch sind, und die die Bekämpfung der eingewanderten Arten verhindern wollen.

Wissenschaftlich differenzierter aber ebenso spannend nimmt sich der renommierte Wissenschaftsjournalist Fred Pearce in seinem Sachbuch Die neuen Wilden – Wie es mit fremden Tieren und Pflanzen gelingt, die Natur zu retten* des Themas an. Er folgte der Spur der fremden Arten auf sechs Kontinenten und interviewte zahllose WissenschaftlerInnen. Am Ende ist er überzeugt, dass invasive Arten oft die Lösung von menschengemachten Problemen sein können.

Die dickstieligen Wasserhyazinthe (Eichhornia crassipes) beispielsweise, die bekanntermaßen sogar Wasserwege völlig verstopfen kann, tritt nur da in Massen auf, wo das Wasser verschmutzt und zu nährstoffreich ist. Sie folgt den Menschen, besser: seinen Abwässern, landwirtschaftlichen Nährstoffeinträgen und sonstigen Verunreinigungen in Seen und Flüssen. Sie verzieht sich, wenn die Ursache beseitigt ist, das heißt, wenn die Pflanze das Wasser gereinigt hat, keine neuen Einträge erfolgen und die Wasserqualität wieder stimmt. Ebenso tritt manche invasive Qualle nur da in Massen auf, wo andere Tiere kaum mehr leben können, weil das Wasser zu belastet und zu sauerstoffarm ist.

Pierce kritisiert, dass von manchen Naturschützern Ursache und Wirkung nicht immer genau getrennt werden. Die Invasivarten besiedeln oft Flächen, wo die Einheimischen wegen Umweltveränderungen bereits stark geschwächt oder sogar ausgerottet wurden. Daran ist aber nicht der Neuling schuld, der mit den veränderten Bedingungen zurechtkommt und die Lücke für sich nutzt. Beispielsweise habe sich die Caulerpa-Alge im Mittelmeer auf Flächen ausgebreitet, nachdem dort Süßgraswiesen wegen der Verschmutzung eingegangen waren. Die Alge besiedelte den frei gewordenen Standort und filtere das Wasser. Tatsächlich soll sie in ihrem Habitat mehr Spezies beherbergen als vorher die Süßgraswiesen. Allerdings ziehe sie sich wieder zurück, wenn das Wasser wieder sauberer wird.

Ökologisches Fitting

Erfolgreiche Ökosysteme entstehen nicht erst nach einer jahrhunderte- oder gar jahrtausendelangen gemeinsamen Entwicklung, so Pearce. Das Beispiel der Insel Ascension im Südatlantik zeige, dass auch eingeführte Pflanzen aus aller Welt in sehr kurzer Zeit zu einer Gemeinschaft werden können, deren Schatten, Schutz und Nahrungsangebot von den bereits vorhandenen Tieren gerne genutzt werden, sodass sie die Blüten bestäuben und die Samen verteilen und so zum Erhalt dieses von Menschen geschaffenen Ökosystems beitragen.

Pearce kommt am Ende seiner Recherchen zu dem Schluss, dass wir einen weniger rückwärtsgewandten Naturschutz anstreben sollten. Er zeigt, dass mit Säuberungswut und Ausrottung selten alte Zustände dauerhaft wiederhergestellt werden. Die Maßnahmen haben oft unvorhergesehene Folgen und das bei enorm hohen Kosten (Geld- und oft Gifteinsatz). Ökosysteme hätten auch gar keinen statischen Idealzustand, der erhalten werden muss. Natur ist Veränderung und es findet eine ständige Neuordnung und Anpassung statt. Alteingesessene Arten sind nicht grundsätzlich gut und neue nicht grundsätzlich schlecht. Und wie anders sollen Arten gedeihen und auf den Klimawandel reagieren, als durch das Vordringen in neue Territorien?

Wenn wir Menschen bestimmte Habitate schützen möchten, weil sie uns am Herzen liegen und wir sie erhalten möchten, dann sei daran nichts falsch, so Pearce, aber wir sollten uns im Klaren sein, dass wir das tatsächlich für uns tun und nicht etwa, weil die Natur das braucht – die braucht möglicherweise die neuen Arten, um die menschengemachten Probleme zu bewältigen.

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Fazit

Naturschutz ist wichtig, und die Menschen, die sich ehrenamtlich dafür einsetzen, verdienen Respekt für ihr Engagement. Aber angesichts des Klimawandels und anderer Faktoren, die Standorte verändern, muss Naturschutz neu gedacht werden: Neu ist nicht immer schlecht und alt ist nicht immer gut. Biotope sind von Standortverhältnissen abhängig. Wenn Nährstoffeinträge oder der Klimawandel die Faktoren des Standorts stark verändern, lässt sich das Biotop kaum in der alten Form erhalten. Langfristig werden sich die Arten durchsetzen, die mit den geänderten Standortbedingungen am besten zurechtkommen.

Ursache und Wirkung für die Ausbreitung neuer, vor allem so genannter invasiver Arten, müssen genau analysiert werden. Bei Neophyten darf nicht nur die vermeintlich schlechte und bei der  zurückgedrängten Art nicht nur deren gute Seite in Entscheidungen einbezogen werden. Und falls gegen einen Neophyten Maßnahmen für notwendig erachtet werden, muss untersucht werden, ob diese tatsächlich flächendeckend und rigoros sein müssen, denn möglicherweise trägt der Neophyt zur Beseitigung menschengemachter Probleme bei.

Buchtipp:
Die neuen Wilden*
Wie es mit fremden Tieren und Pflanzen gelingt, die Natur zu retten
Fred Pearce
oekom verlag
ISBN 978-3-86581-768-6

* Werbelink

** Dies ist die gekürzte Version eines Beitrages von mir, der im März 2019 in der Fachzeitschrift Der praktische Gartenratgeber des Obst- und Gartenbauverlages München mit dem Titel „Brauchen wir eine Willkommenskultur im Naturschutz?“ veröffentlicht wurde. Der Obst- und Gartenbauverlag München ist der Verlag des Bayerischen Landesverbandes für Gartenbau und Landespflege e. V. und unterstützt mit fachbezogenen Angeboten die Arbeit der Obst- und Gartenbauvereine.

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Über Eva Schumann

Garten(bau) und Gärtnern sind meine Therapie und Leidenschaft und sie waren viele Jahre mein Beruf. Zu meinem Gartenbau-Studium kam ich über den zweiten Bildungsweg, denn da lernte ich den Spaß am Lernen und so wurde lebenslanges Lernen zu meinem Lebensmotto. Ich bin Fachfrau auf mehreren Gebieten, denn ich habe mehrere Ausbildungen (Einzelhandelskauffrau Parfümerie, abgeschlossenes Studium Gartenbau, Weiterbildung Netzwerk- und Internetmanagement, Schulungen technische Redaktion, IT, Mobilfunknetze, Programmierung, Datenbanken und mehr) und auch ausgiebig Berufserfahrung gesammelt. Daneben bin ich immer leidenschaftliche Hobbygärtnerin (Garten, Balkon, Terrasse) und Hobbybörsianerin (aus Begeisterung für das Internet) geblieben. Ich verdiene meinen Lebensunterhalt heute als freie Journalistin, Bloggerin, Texterin, Buchautorin und Technische Redakteurin (mehr siehe www.evaschumann.biz) sowie über meine werbefinanzierten Publikationen im Internet (Portalseite www.tinto.de). Buchen Sie Werbeplatz oder bestellen Sie frische Texte, Bilder oder anderen Content bei tinto@tinto.de oder eschumann@evaschumann.biz
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